ASMR – Urlaub fürs Gehirn

Für alle, die in diesem Jahr keine Urlaubsreise antreten können, gibt es alternative Möglichkeiten, um dem Alltagsstress zu entfliehen… ASMR!

Noch nie gehört? Unsere Freiwilligendienstleistenden Joelina Sander und Nele von Hoff erklären, was sich hinter Autonomous Sensory Meridian Response (ASMR) verbirgt:

Man sieht jemandem beim Malen zu, bekommt eine Kopfmassage beim Frisör oder hört einer sanften Stimme zu, die sehr ruhig vorliest – schon ist man auf angenehme Weise entspannt.
In den vergangenen Jahren wurde dazu ein bestimmtes Phänomen auf YouTube immer populärer, das genau diese Erfahrungen aufgreift: ASMR-Videos. ASMR (Autonomous Sensory Meridian Response) beschreibt ein Kribbeln am Hinterkopf, Nacken oder an der Wirbelsäule. Dieses Gefühl wird als »Tingles « bezeichnet und durch bestimmte akustische und visuelle Reize, sogenannte »Trigger«, ausgelöst. Zu diesen Triggern gehören unter anderem das Erzählen im Flüsterton (»Whispering «), das Erzeugen von Geräuschen mit den Fingern und Fingernägeln, auch »Tapping« und »Scratching« genannt oder »Brushing Sounds«, also das Geräusch beim Kämmen von Haaren. ASMR-Videos bezwecken, dass sich die Zuschauenden bzw. Zuhörenden entspannen. Viele Menschen, die ASMR-Videos schauen, berichten davon, dass sie diese als Einschlafhilfe bei Schlafstörungen oder als Mittel gegen Panikattacken und Migräne nutzen.

Ganz neu ist dieses Phänomen allerdings nicht. Der Maler Bob Ross, der in den USA von 1983 bis 1994 die Sendung »The Joy of Painting« moderierte, gilt heute als eine Art Urvater der ASMR-Bewegung. Viele Zuschauer berichteten von einem Gefühl der Entspannung, das die Kombination des Malens und Ross‘ beruhigender Stimme hervorrief. Heute gibt es mehr als dreizehn Millionen Videos auf YouTube und um den Internet-Trend ist auch im echten Leben ein wahrer Wirbel entstanden. In den USA wirbt beispielsweise IKEA mit Hilfe von Rascheln in einem ASMR-Spot für Bettwäsche und Vorhänge. Auch Prominente wie Gigi Hadid, Rita Ora und Cardi B entdecken für das Modemagazin »W-Magazine« ASMR und sorgen so für entspannende Clips. In Deutschland gab es die ersten Berichte über diese Bewegung erst 2012.

Ein dunkel getönter Raum. Eine einfarbige, mit Lichterketten dekorierte, Wand. Davor sitzt eine hübsche junge Frau, die in ein Mikrofon flüstert und dabei sanft über ihr Gesicht streichelt. Es wirkt so, als ob sie direkt zu den Zuschauenden reden würde und ihnen dabei tief in die Augen schaut: »Nun schließt du deine Augen und ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit überströmt deinen Körper.« Für viele Menschen wirkt das auf den ersten Blick sehr erotisch, aber warum? Im Grunde genommen sollen diese Videos zur Entspannung oder dem einfacheren Einschlafen dienen, doch sie bedienen offenbar auch oft eine sexuelle Komponente. Viele ASMR-YouTuber*innen sind gar nicht darauf bedacht, ihre Zuschauer*innen mit ihren Videos in dieser Form zu stimulieren, doch oft ist dies der Fall. Das erotische Erlebnis wird allerdings nicht durch dargestellte Geschlechtsteile, Sexualpraktiken oder Spielzeuge erzeugt, sondern durch Trigger wie Flüstern, Streicheln oder Essen. Diese sehr intimen Alltagssituationen werden normalerweise eher weniger beachtet.

Dazu kommt das hoch frequentierte Mikrofon, das die leisen Geräusche lauter und intensiver werden lässt. Der atmosphärisch gestaltete Raum vermittelt eine wohlige Stimmung, Zuschauende fühlen sich schnell geborgen und beschützt. Oftmals sprechen die YouTuber*innen in der Du-Form, damit die Zuschauenden sich angesprochen und verstanden fühlen. Sie vermitteln den Eindruck, dass das Video speziell für genau die jetzt Zuschauenden aufgenommen wurde und die Person vor der Kamera einem direkt gegenüber sitzt. Doch warum sind es ausgerechnet Videos von Frauen, die als sexuell-erregend verstanden werden? Folgt man dem klassischen geschlechtsspezifischen Denken, könnte man schlussfolgern, dass es schon immer Frauen waren, die sich um die Kinder oder den Mann gekümmert und diese umsorgt haben.

Auch ist klar, dass Gestik, Mimik oder bestimmte Kleidung einer Frau anders wirken als bei einem Mann. So kommt es, dass auch YouTuberinnen diese »Vor(ur)teile« im Roleplay ausnutzen und Videos in Krankenschwesternoutfits drehen oder einen Besuch beim Arzt nachstellen. Es ist nicht abwegig, dass sie dadurch mehr Likes und Aufrufe bekommen. In der Realität von YouTube reicht manchmal schon ein tiefer ausgeschnittenes Oberteil, damit die Kommentare explodieren und Anfragen nach persönlichen Bikini-Videos die YouTuberinnen erreichen. Dass es der Masse an ASMR-Zuschauenden aber nicht um die scheinbare Erotik geht, ergibt eine Studie der britischen Swansea University mit 475 erwachsenen Teilnehmer/-innen aus dem Jahr 2015: Demnach nutzen nur 5 Prozent der Befragten ASMR zur sexuellen Stimulation, 84 Prozent hingegen widersprachen solcher Nutzung.

Man kennt es aus den verschiedensten Alltagssituationen: das Ticken des Uhrzeigers, das Schmatzen beim Mittagessen oder das Tippen der Fingernägel auf der Tastatur. Diese kleinen unscheinbaren Geräusche empfinden die einen als beruhigend, andere treiben sie wortwörtlich in den Wahnsinn. Solche Unterschiede in den Reaktionen auf Reize gibt es nicht nur bei Geräuschen, auch alle anderen Sinne sind unterschiedlich ausgeprägt. ASMR beruht darauf, die Reize anzuregen. Dabei wird es von Mensch zu Mensch anders empfunden. Grob lassen sich die Erfahrungen des Zuschauens bzw. Zuhörens von ASMR in drei Stufen gliedern: positives, negatives und kein Erlebnis.
Das positive Erlebnis wurde bereits deutlich beleuchtet: das Gefühl von Entspannung bis hin zu einem tiefen tranceähnlichen Zustand. Allerdings kann ASMR auch negative Reaktionen, geprägt von Aggressionen und Nervosität, erzeugen. Aus vielen Erfahrungsberichten geht hervor, dass vor allem die sogenannten »Mouth Sounds« – also mit dem Mund erzeugte Geräusche – als abschreckend oder sogar als widerlich empfunden werden. Viele Menschen werden auch nervös beim sanften Flüstern und bilden sich ein, fiktive Stimmen zu hören.

Nicht alle Menschen reagieren auf die Trigger. Viele finden die Videos angenehm, aber bekommen keine Tingles von den Geräuschen oder Handlungen. Andere reagieren sehr intensiv. Woran das liegt, ist allerdings nicht klar. Die Wissenschaft hat den Bereich des ASMR noch nicht umfassend erforscht. Klar ist nur, dass die Trigger bestimmte Areale im Gehirn anregen und es dann zu einer Reaktion mit positiven oder negativen Gefühlen kommt.
Es ist keineswegs ungewöhnlich, dass der Trend ausgerechnet jetzt boomt, in einer Zeit, in der die traditionellen Netzwerke immer weniger werden und es vermehrt darum geht, sich um sich selbst zu sorgen. Gleichzeitig hat niemand mehr wirklich Zeit für die Selbstfürsorge, alle hetzen scheinbar nur von Termin zu Termin. Da kommen die ASMR-Videos, die Tiefenentspannung innerhalb der nächsten 15 Minuten versprechen, äußerst gelegen.
Trotzdem: Nicht jedes ASMR-Video ist ein simples Entspannungsvideo, manche spielen auch bewusst auf die sexuelle Ebene an und werden daher auch als »Flüsterpornos« bezeichnet.
Hier geht die Spanne von leicht bekleideten Personen, die sehr intensive Kuss- und Leckgeräusche erzeugen, bis hin zu Latex- und SM-Fantasien. Die meisten dieser Videos sind frei zugänglich für alle User, auch für Minderjährige. Diese Clips sind kaum für die Augen und Ohren junger Menschen geeignet und können sie in ihrer Entwicklung beeinträchtigen.


Der Beitrag wurde in der aktuellen Ausgabe der bundesweiten Fachzeitschrift „KJug – Kinder- und Jugendschutz in Wissenschaft und Praxis“ veröffentlicht. Nachwuchsjournalist*innen haben zum Thema „Jugendschutz“ recherchiert und beschreiben, dass junge Menschen Jugendschutz als wichtig erachten und einen sehr differenzierten Blick auf einzelne, zum Teil noch unbekannte Phänomene haben: https://www.bag-jugendschutz.de/kjug_archiv.html#kjug220