Das Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung wird die Förderung der Servicestelle zum 31.12.2024 einstellen. Im Rahmen einer Ausschreibung sollen die Leistungen des erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes ab dem Jahr 2025 in einem Dienstleistungsvertrag vergeben werden.
Weil uns in den letzten Wochen zahlreiche Fragen dazu erreichten, haben wir hier die wichtigsten Fakten aus unserer Perspektive zusammengefasst.
Hier sind Stellungnahmen und Unterstützerschreiben von Institutionen und Akteuren zu finden.
Die Mitarbeitenden haben einen Offenen Brief zu dem Thema verfasst, er ist hier zu finden.
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- Was ist die Servicestelle Kinder- und Jugendschutz?
- Wie viele Menschen arbeiten bei der Servicestelle?
- Was macht die Servicestelle konkret?
- Wie viele Menschen erreicht die Servicestelle?
- Gibt es inhaltliche Kritik an der Arbeit der Servicestelle?
- Warum will das Ministerium die Servicestelle nicht mehr fördern?
- Wie wurde die Servicestelle in die Überlegungen der Ausschreibung eingebunden?
- Braucht es eine engere Steuerung der Servicestelle?
- Ist eine Ausschreibung im erzieherischen Kinder- und Jugendschutz zweckmäßig?
- Ist die Ausschreibung eines Dienstleistungsvertrages rechtlich möglich?
- Wann könnte eine neue Organisation die Aufgaben übernehmen?
- Kann fjp>media als derzeitiger Träger sich bewerben?
- Was passiert mit dem erzieherischen Kinder- und Jugendschutz bis zum 31.12.2024?
- Wird es die Servicestelle auch nach dem Ende der Förderung geben?
- Werden die Beschäftigten nach Ende 2024 weiterarbeiten können?
- Ist die Servicestelle in der Jugendhilfeplanung verankert?
- Findet sich die Servicestelle im Koalitionsvertrag des Landes Sachsen-Anhalt?
1. Was ist die Servicestelle Kinder- und Jugendschutz?
Seit 2015 gibt es die Servicestelle Kinder- und Jugendschutz. Sie gehört zum Jugendverband fjp>media und ist die landesweit zuständige Fachstelle für den erzieherischen Kinder- und Jugendschutz, also für präventive Angebote für Heranwachsenden, Eltern und Fachkräfte.
2. Wie viele Menschen arbeiten bei der Servicestelle?
Es gibt insgesamt 8 Stellen, aufgeteilt auf sechs Referentinnen, zwei Verwaltungsmitarbeiterinnen und einen Geschäftsführer. Zudem sind jährlich zwei Freilligendienstleistende im Team.
3. Was macht die Servicestelle konkret?
Die Servicestelle arbeitet einerseits unmittelbar mit Kindern und Jugendlichen, um die Resilienz zu stärken und ihnen Strategien gegen gefährdende Einflüsse an die Hand zu geben. Zudem informieren die Referentinnen Familien für eine Nachhaltigkeit im erzieherischen Umfeld. Sie bilden Fachkräfte aus Jugendhilfe, Schule, Polizei und Justiz themenspezifisch fort.
Allen Interessierten stellt die Servicestelle umfangreiche Fachinformationen zur Verfügung: Handreichungen wie zum Umgang mit dem Tätervideo des antisemitischen Anschlags in Halle, zum pädagogischen Handeln mit den Auswirkungen des Ukraine-Krieges oder Broschüren über Kinderrechte in Ukrainisch für junge Geflüchtete sind wichtige Hilfsmittel für viele Eltern und Pädagog*innen. Positives Feedback gab es aus dem ganzen deutschsprachigen Raum.
Die Servicestelle vernetzt und berät die Jugendschutzverantwortlichen der örtlichen Jugendämter. Darüber hinaus wirkt sie in Prüf-, Kontroll- und Aufsichtsgremien des gesetzlichen Kinder- und Jugendschutzes wie der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien mit.
4. Wie viele Menschen erreicht die Servicestelle?
Im Jahr 2022 gab es insgesamt 104 Bildungsangebote mit 1.809 Kindern und Jugendlichen, 103 Fortbildungen mit 1.579 Multiplikator*innen sowie 9 Eltern-Kind-Informationsveranstaltungen mit 243 Personen. Dazu kommen zahlreiche Beratungen für Fachkräfte und Familien.
5. Gibt es inhaltliche Kritik an der Arbeit der Servicestelle?
Nein, im Gegenteil: Das Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung schätzt nach Aussage des zuständigen Referats die fachliche Expertise der Servicestelle sehr und bescheinigt, „dass neue Entwicklungen im Jugend(medien)schutz schnell und engagiert aufgenommen werden und für die Fachkräfte der Jugendarbeit, aber auch Kinder, Jugendliche, Eltern, Lehrkräfte oder die interessierte Fachöffentlichkeit gewinnbringend aufbereitet bzw. durch Fachtage, Beratungen, Fortbildungen und Netzwerkarbeit der Zielgruppe zugänglich gemacht werden“.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (BAJ) als Zusammenschluss von Organisationen des Kinder- und Jugendschutzes betont, dass die Servicestelle eine feste Größe ist, „die auch bundesweit im Kreis der Landesstellen für Kinder- und Jugendschutz mit ihrer Expertise in Fragen des Jugendschutzes nicht mehr wegzudenken ist“. Die Arbeit „der Kolleg*innen aus Sachsen-Anhalt zeugt von sehr hoher Fachlichkeit und Erfahrung, die Zuarbeiten und Informationen sind bei den anderen Landesstellen und auch im Bundeskontext mittlerweile unverzichtbar geworden“. Die Servicestelle hat „im Bundeskontext eine Expertise, die in dieser Form kein zweites Mal vorkommt“.
Der Kinder- und Jugendring Sachsen-Anhalt „fordert das Ministerium eindringlich dazu auf, Jugendverbände als Träger der Jugendhilfe ernst zu nehmen und grundsätzlich von den Plänen der Umstrukturierung der Arbeit im erzieherischen Kinder- und Jugendschutz gemäß § 14 SGB VIII Abstand zu nehmen. Die Servicestelle leistet bereits seit Jahren gute Arbeit und muss beim Träger fjp>media in bestehender Form verbleiben“[1].
Der Landesjugendhilfeausschuss als zentrales Gremium des Landes zu allen landesweiten Fragen der Jugendhilfe hat in seiner Sitzung am 20.11.2023 einstimmig einen Beschluss zur geplanten Neustrukturierung getroffen. Er kritisiert darin das Vorhaben des Ministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung im Bereich des erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes, ohne dass hierzu der fachliche Austausch mit dem Ausschuss und seinen Unterausschüssen für Jugendhilfeplanung und Finanzen gesucht wurde.
6. Warum will das Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung die Servicestelle nicht mehr fördern?
Das Ministerium möchte nach eigener Aussage eine „eigenständige Einrichtung“, die durch das Ministerium geplante Fachstelle soll keinem Jugendverband angehören. Zudem will es nach eigenen Aussagen „eine engere Steuerung“. Genannt wird auch die Prüfung des Landesrechnungshofes (LRH) aus dem Jahr 2020. Damals hatte der Landesrechnungshof die aus seiner Perspektive mangelnde Abgrenzung zwischen der institutionellen Förderung und den ebenfalls vom Land geförderten Projekte des Trägers fjp>media bemängelt und empfohlen, die Förderung der Servicestelle für Kinder- und Jugendschutz neu zu strukturieren. So sollten bis zu dem Zeitpunkt die beiden getrennt gefördeten Bereiche der Verwaltung (institutionell gefördert) und der inhaltlichen Arbeit (projektgefördert) zusammengeführt werden. Dabei sollte auch geprüft werden, ob die Servicestelle rechtlich selbständig gefördert wird. Das würde nach Auffassung des LRH die Abgrenzungsprobleme reduzieren.
Die Prüffeststellung aus dem Jahresbericht 2020 ermöglichte die Fortführung der Förderung der Servicestelle. So heißt es: „Sollte an der bisherigen Förderstruktur festgehalten werden, müssen aus der Sicht des Landesrechnungshofes die Aufgabenbereiche der Servicestelle im Förderverfahren von den übrigen Verbandsaufgaben hinreichend abgegrenzt werden. (…) Um eine zielgerichtete Förderung sicherzustellen, erwartet der Landesrechnungshof vom Ministerium für Arbeit, Soziales und Integration und dem Landesverwaltungsamt für die Servicestelle mindestens eine eindeutige und praktikable Trennung der Förder- und Tätigkeitsbereiche zu der übrigen Verbandsarbeit zu gewährleisten“.[2]
Infolge der Prüfung hat das Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung die beiden bislang getrennt geförderten Bereiche des Jugendschutzes in der institutionellen Förderung zusammengefasst. Zudem wurde der Servicestelle im Zuwendungsbescheid die Auflage erteilt, neben der ohnehin geregelten strikten und eindeutigen Zuordnung der Einnahmen und Ausgaben zusätzlich für die im Rahmen der institutionellen Förderung der Servicestelle Kinder- und Jugendschutz finanzierten Personalstellen die Arbeitszeit zu dokumentieren und nachzuweisen.
Zu der Frage der Förderung der Servicestelle hat sich der Unterausschuss Rechnungsprüfung des Landtages in seiner Sitzung am 09.01.2023 im Top 2 befasst. Nach dem Protokoll schilderte das Sozialministerium, aufgrund des damit verbundenen Aufwands keine neue Struktur schaffen zu wollen. Es gäbe zukünftig die mit der Förderung der Servicestelle verbundene Auflage, vom Geschäftsführer und von der Büroleiterin Stundennachweise für deren Tätigkeiten zu verlangen, um die Abgrenzung schriftlich dokumentieren zu können. Der Landesrechnungshof nannte gemäß des Protokolls das Vorgehen durchaus nachvollziehbar.
Nach Diskussion sowie Anhörung des Landesrechnungshofes und des Sozialministeriums wurde die Befassung mit dem Beratungsgegenstand einstimmig für erledigt erklärt.[3]
7. Wie wurde die Servicestelle in die Überlegungen der Ausschreibung eingebunden?
Durch Informationen des Landesjugendhilfeausschusses zum Einzelplan 05 erfuhr die Servicestelle am 28.08.2023 von der geplanten Vergabe als Dienstleistungsvertrag ab 2025. Vorher gab es keinerlei Informationen oder Gespräche zu diesem konkreten Vorhaben. Ausdrücklich förmlich in Kenntnis gesetzt wurde die Servicestelle zwei Monate später, in einem Schreiben des Ministeriums vom 26.10.2023.
8. Braucht es eine engere Steuerung der Servicestelle?
Seit 2015 arbeitet die Servicestelle mit einem mit der Landesverwaltung abgestimmten Konzept, das die detaillierten Arbeitsschwerpunkte enthält. Sozialministerium und Landesjugendamt werden zu jeder Konzeptüberarbeitung ausdrücklich eingeladen, nahmen die Termine aber aufgrund fehlenden Personals oder mangels zeitlicher Ressource kaum wahr. Auf die jährlich eingereichten Sachberichte mit dezidierten Teilzielen, Kriterien und Indikatoren gibt es nur sehr selten Rückmeldungen; die dort explizit zusammengetragenen Schlussfolgerungen konnten nie mit der Landesverwaltung besprochen werden. Die jedes Jahr vorab einzureichenden Tabellen mit Datum und Teilnehmendenzahl von Bildungsprojekten, Fortbildungen und Beratungen werden kommentarlos entgegen genommen. Eine 2015 durch das Sozialministerium koordinierte Steuerungsgruppe tagt schon seit über zwei Jahren nicht mehr.
Im Sozialministerium gibt es ein Referat, das neben vielen anderen Themen anteilig den Kinder- und Jugendschutz bearbeitet. Die entsprechende Struktur im Landesjugendamt ist noch fragiler: Es gibt Stundenanteile bei wenigen Mitarbeitenden, die allerdings aufgrund anderer Themen stark eingebunden oder lange Monate nicht im Amt sind. Insgesamt – so auch der Sachstand aus dem Landesjugendhilfeausschuss – erlaubt es die „personelle Ausstattung des Landesjugendamtes (…) nicht, ihm obliegende fachliche Kernaufgaben des überörtlichen Trägers der Jugendhilfe aus § 85 Abs. 2 SGB VIII wahrzunehmen. Verschiedene Aufgaben können nur unzureichend wahrgenommen werden, insbesondere die Unterstützung der örtlichen und freien Träger sowie konzeptionelle Tätigkeiten. Aus dem Aufgabenkatalog des § 85 Abs. 2 SGB VIII sind dies die Beratung und Entwicklung von Empfehlungen, die Förderung der Zusammenarbeit zwischen örtlichen und anerkannten Trägern der freien Jugendhilfe, die Anregung von überörtlichen Maßnahmen und die Entwicklung von Modellvorhaben zur Weiterentwicklung der Jugendhilfe“.[4] Das gilt auch für die Begleitung des erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes.
Einerseits bindet die Servicestelle die Landesverwaltung von Anfang an intensiv ein – es bestehen bereits seit Jahren umfangreiche Möglichkeiten der Steuerung, ohne dass sie genutzt werden. Andererseits ist die personelle Ausstattung der Landesverwaltung derart prekär, dass die anstehende deutlich umfassendere und schwierigere substantielle Neugestaltung des erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes nur schwer gelingen kann, von einer folgenden „engeren Steuerung“ bei einer gänzlich dann neuen und intensiver zu begleitenden Form der Finanzierung ganz zu schweigen.
9. Ist eine Ausschreibung im erzieherischen Kinder- und Jugendschutz zweckmäßig?
Im Kapitel 05 17 – Kinder, Jugend, Familie des Entwurfes zum Haushaltsplan 2024 sind unter Titel 533 01 – Dienstleistungen Außenstehender 51.700 Euro für die Ausschreibung des Dienstleistungsvertrages eingeplant.[5] Zu diesen unmittelbaren Ausgaben kommen noch die Kosten für die Landesbeschäftigten, die sich intensiv mit einer derart neuen und bundesweit einmaligen Ausschreibung beschäftigen müssen.
Neben den haushalts- und verwaltungsrechtlichen Fragen sind dabei auch die sozialrechtlichen Eckpunkte einer solchen völlig unbekannten Ausschreibung aufwändig zu erarbeiten. Damit fallen trotz einer funktionierenden und etablierten Einrichtung des erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes Kosten in erheblichem Umfang an, um genau diese abzuwickeln und in einem verzichtbaren Prozess eine neue Organisation zu beauftragen.
In jedem Fall gibt es ein derartiges Vorgehen in keinem anderen Bundesland. Auch das Sozialministerium hat in den vergangenen Jahren noch nie derartige Verträge geschlossen und es für die Zukunft auch nicht anderweitig vor.[6]
Auch dem Landesrechnungshof war in der Sitzung des Finanzausschusses am 16.11.2023 nicht erklärlich, wieso das Sozialministerium trotz erledigter Prüfung Veränderungen vornehmen und vom Zuwendungsrecht zu einem Dienstleistungsauftrag wechseln will. Die anwesende Vertreterin des Landesrechnungshofes erklärte ausführlich die zahlreichen Nachteile des geplanten Wechsels und betonte, dass der Landesrechnungshof den Prozess sehr kritisch sieht, da ein Dienstleistungsvertrag weder wirtschaftlich noch zweckmäßig sei.
10. Ist die Ausschreibung eines Dienstleistungsvertrages rechtlich möglich?
Grundsätzlich ist es fraglich, ob die geplante Umgestaltung den wesentlichen Bestimmungen des SGB VIII Rechnung trägt. Zwar handelt es sich bei der Entscheidung zur Form der Finanzierung um eine Ermessensentscheidung des öffentlichen Trägers der Jugendhilfe. Diese muss sich allerdings an den grundlegenden Prinzipien des SGB VIII, wie etwa dem Grundsatz der Kooperation zwischen der öffentlichen mit der freien Jugendhilfe, orientieren. So stellt § 4 Abs. 3 SGB VIII klar, dass die öffentliche Jugendhilfe die freie Jugendhilfe zur Beteiligung von Kindern, Jugendlichen und Eltern fördern soll. Der Abschluss von Vereinbarungen nach den §§ 77, 78a ff. SGB VIII ist dabei aufgrund der Unterschiedlichkeit der Rechtsinstrumente gerade nicht als „Förderung“ im Sinne des § 4 Abs. 3 SGB VIII zu verstehen.[7]
Mit dem Subsidiaritätsprinzip aus § 4 Abs. 2 SGB VIII wird der öffentliche Träger der Jugendhilfe zudem dazu verpflichtet, von eigenen Maßnahmen abzusehen, soweit geeignete Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen von anerkannten Trägern der freien Jugendhilfe betrieben werden können. Daraus folgt, dass es unzulässig ist, einem freien Träger der Jugendhilfe die übertragenen Aufgaben des erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes ohne triftige Gründe wieder zu entziehen.[8]
11. Wann könnte eine neue Organisation die Aufgaben übernehmen?
Wenn der Kinder- und Jugendschutz zukünftig als „eigenständige Einrichtung“ in einer rechtlich selbständigen Struktur etabliert werden soll, kann sich faktisch nur eine eigens zu diesem Zweck gegründete Organisation wie ein Verein bei der Ausschreibung bewerben. Diese sollte für die verfassungsmäßige Aufgabe des Kinder- und Jugendschutzes in jedem Fall über die Anerkennung als freier Träger der Jugendhilfe nach § 75 SGB VIII i. V. mit § 14 KJHG LSA verfügen. Dazu müsste dieser neu gegründete Träger jedoch nach den Grundsätzen des Landesjugendhilfeausschusses des Landes Sachsen-Anhalt über die öffentliche Anerkennung von Trägern der freien Jugendhilfe die „fachlichen und personellen Voraussetzungen erwarten lassen, dass er einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Erfüllung der Aufgaben der Jugendhilfe zu leisten imstande ist (vgl. § 75 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII)“.[9] Eine derartige Beurteilung ist nach den Grundsätzen jedoch in der Regel erst möglich, wenn der Träger über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr tätig gewesen ist.[10]
Insofern kann faktisch infolge einer Ausschreibung eine neue Organisation nicht unmittelbar starten, sie müsste zunächst mindestens ein Jahr ihre Voraussetzungen für die Anerkennung als freier Träger der Jugendhilfe durch eine adäquate Tätigkeit nachweisen. Im günstigsten Fall – ein zügiges Anerkennungsverfahren vorausgesetzt – wäre damit eine Übernahme ausgeschriebener Aufgaben ab Anfang 2026 möglich. Damit entstünde eine erhebliche Lücke, in der die Pflichtaufgaben des erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes gar nicht wahrgenommen würden.
12. Kann fjp>media als derzeitiger Träger sich bewerben?
Prinzipiell wäre eine Bewerbung von fjp>media wegen der Voraussetzung einer „eigenständigen Einrichtung“ in einer rechtlich selbständigen Struktur völlig ausgeschlossen. Das betrifft natürlich auch jeden anderen Träger mit bereits bestehenden inhaltlichen Aufgaben. Das bedeutet auch, dass die Erfahrungen der bewährten Akteure der Kinder- und Jugendhilfe für diese Aufgabe außen vor bleiben. Tatsächlich hat das Sozialministerium jedoch die eigenen Aussagen in der Ausschreibung beiseite gelassen. Bewerben konnten sich nicht nur rechtlich selbständige Strukturen für eine eigenständige Einrichtung.
13. Was passiert mit dem erzieherischen Kinder- und Jugendschutz bis zum 31.12.2024?
Sehr wahrscheinlich werden die Beschäftigten der Servicestelle nicht bis zum 31.12.2024 warten, welche Entwicklungen sich für ihre persönliche Zukunft ergeben. Schon jetzt herrscht unter den Mitarbeiterinnen eine große Enttäuschung über die permanente, nun unmittelbare Missachtung ihrer Arbeitsleistungen und vor allem eine massive Unsicherheit zur eigenen Perspektive. Viele Kolleginnen schauen bereits jetzt nach neuen beruflichen Optionen. Demzufolge ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Servicestelle ihre Leistungen des Kinder- und Jugendschutzes für Heranwachsende, Erziehungsberechtigte und Fachkräfte auch in 2024 nicht oder nicht mehr vollumfänglich wahrnehmen kann. Sollten sich Menschen mit neuralgischen Kernaufgaben wie beispielsweise der vergleichsweise schmal aufgestellten Verwaltung zum Weggang entscheiden, kann es umgehend zu einem völligen Stillstand der Aufgaben kommen.
Zudem braucht die ordnungsgemäße Auflösung der Servicestelle inklusive des Verwendungsnachweises eine gewisse Zeit. Nicht umsonst gibt es eine Frist von sechs Monaten bis zur Vorlage der entsprechenden Unterlagen. Nach dem Ende der Förderung jedoch wird es keine Beschäftigten mehr geben, die diese Arbeit machen können. Der Träger wird die Geschäftstätigkeit bis auf die reine Abwicklung schon deutlich vor dem 31.12.2024 einzustellen, um alle nötigen Aufgaben zur vollständigen Beendigung zu erledigen und einen Verwendungsnachweis zu erstellen. Dazu bedarf es mindestens 8 Wochen, auch, damit entsprechende Endabrechungen beispielsweise der Sozialversicherungen oder Mietverträge vorliegen.
Demnach würden ab spätestens Ende Oktober 2024 keine Leistungen des erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes auf Landesebene mehr erbracht werden.
14. Wird es die Servicestelle auch nach dem Ende der Förderung geben?
Nein, gegenwärtig ist nicht davon auszugehen. Auch wenn anderes behauptet wird: Die Servicestelle Kinder- und Jugendschutz gehört dem Träger fjp>media. Das Sozialministerium beendet die Förderung dafür zum 31. Dezember 2024. Dann bekommt der Träger kein Geld mehr und kann keine Personal- und Sachkosten mehr zahlen. Ohne Finanzierung muss die Servicestelle schließen.
Das Land kann natürlich einer anderen Institution Geld geben, z.B. für die Durchführung von Fortbildungen oder Beratungen im Jugendschutz. Diese Angebote werden aber nicht die Servicestelle Kinder- und Jugendschutz sein, denn diese muss der Träger als Eigentümer auflösen.
15. Werden die Beschäftigten nach Ende 2024 weiterarbeiten können?
Nein. Die Förderung der Servicestelle Kinder- und Jugendschutz endet im Dezember 2024. Spätestens bis dahin muss der Träger alle Beschäftigten kündigen, denn ohne Geld kann kein Gehalt gezahlt werden. Zudem ist in den Arbeitsverträgen des Teams die Tätigkeit in der Servicestelle vereinbart. Da es diese dann nicht mehr gibt, fehlt jegliche Grundlage für eine Beschäftigung.
16. Ist die Servicestelle in der Jugendhilfeplanung verankert?
Am 30.11.2015 hat der Landesjugendhilfeausschuss die Leitlinien für den Jugendschutz im Land Sachsen-Anhalt beschlossen.[11] In diesen Leitlinien[12] ist verankert, dass das Land Sachsen-Anhalt die Servicestelle Kinder und Jugendschutz bei fjp>media, dem Verband junger Medienmacher in Sachsen-Anhalt, fördert. Die Struktur des Trägers war zu diesem Zeitpunkt bekannt, eine bewusste Entscheidung für fjp>media wurde getroffen. Ob es danach nunmehr allein im Ermessen der obersten Landesjugendbehörde liegt, eine gravierende Änderung in der Finanzierungsstruktur herbeizuführen, ist fraglich. Zumindest darf eine Änderung der Förderung nicht willkürlich erfolgen, sondern bedarf gegebenenfalls der Abstimmung im Landesjugendhilfeausschuss.
17. Findet sich die Servicestelle im Koalitionsvertrag des Landes Sachsen-Anhalt?
Die Landesverbände der CDU, der SPD und der FDP haben im Koalitionsvertrag ihr Regierungsprogramm und die wichtigsten Vorhaben beschlossen. Dazu gehört auch ein klares Bekenntnis zum Kinder- und Jugendschutz und zum Jugendmedienschutz. So sollen die „Studieninhalte zu digitaler Bildung, Umgang mit Heterogenität, interkultureller Kompetenz, Demokratieförderung und Aspekten des Kinder- und Jugendschutzes (…) in allen Phasen der Lehramtsausbildung verbindlich“ vermittelt werden.[13]
Zudem wollen die Koalitionspartner „den Kinder- und Jugendmedienschutz weiter in den Fokus rücken“. Sie betrachten „Medienkompetenz (…) in der modernen Mediengesellschaft mit sozialen Medien und Fakenews (als) eine unverzichtbare Schlüsselqualifikation“, die „fester Bestandteil des Ausbildungskanons und der Weiterbildungsangebote für Lehrkräfte sowie für Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe und der offenen Jugendarbeit werden“ muss. Die Koalition will „eine Aufklärungsoffensive in Horten und Schulen ermöglichen, die Gefahren im Netz thematisiert“.[14]
„Die Koalition wird darauf dringen, umfassende und einheitliche Präventions- und Gewaltschutzkonzepte in Schulen, in der Kinder- und Jugendarbeit, in Vereinen sowie in sozialen Einrichtungen zu entwickeln und die dort tätigen Fachkräfte zu stärken, damit sie Anzeichen von Missbrauch und Gewalt erkennen“.[15]
All diese Aufgaben erfüllt die Servicestelle: Die Referentinnen lehren Kinder- und Jugendschutz an Hochschulen, bilden Lehrpersonal und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe zu Jugendmedienschutz fort und unterstützen Fachkräfte bei Präventions- und Gewaltschutzkonzepten.
Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Institution auch direkt im Koalitionsvertrag benannt wurde: „Wir werden mit der ‚Servicestelle Kinder- und Jugendschutz‘ den Kinder- und Jugendmedienschutz stärken und die Medienkompetenz im Rahmen von Fort- und Weiterbildungen der Fachkräfte verbessern“.[16]
Quellen
[1] https://www.kjr-lsa.de/wp-content/uploads/2023/03/Beschluss-D1.pdf
[2] Vgl. Jahresbericht Teil 1 des Landesrechnungshofes 2020, Seite 80, https://lrh.sachsen-anhalt.de/fileadmin/Bibliothek/LRH/Berichte/Jahresbericht_2020_Teil_1.pdf
[3] Vgl. Niederschrift des Unterausschuss Rechnungsprüfung vom 09.01.2023, Seite 10, https://padoka.landtag.sachsen-anhalt.de/files/aussch/wp8/rpr/protok/rpr006p8i.pdf
[4] Vgl. Niederschrift zur 5. Sitzung in der 8. Amtsperiode des Landesjugendhilfeausschusses mit den Schwerpunktthemen: Sonderprogramm zum Erhalt der Kinder- und Jugendhilfe vom 28.11.2022, Haushalt 2024, Seite 20, https://lvwa.sachsen-anhalt.de/fileadmin/Bibliothek/Politik_und_Verwaltung/LVWA/LVwA/Dokumente/5_famgesjugvers/501/LJHA/Niederschriften/2022_11_28_Niederschrift.pdf
[5] Vgl. Entwurf zum Haushaltsplan für das Haushaltsjahr 2024, Seite 646, https://mf.sachsen-anhalt.de/fileadmin/Bibliothek/Politik_und_Verwaltung/MF/Dokumente/Haushalt/HHPL_E_2024/Entwurf_Haushaltsplan_2024.pdf
[6] Vgl. „Dienstleistungsverträge in der Kinder- und Jugendhilfe“, Drucksache 8/3265 (KA 8/1744), Seite 6, https://padoka.landtag.sachsen-anhalt.de/files/drs/wp8/drs/d3265dak.pdf
[7] Vgl. Prof. Dr. Renate Bieritz-Harder; Prof. Dr. Volker Neumann in: Hauck/Noftz SGB VIII, 3. Ergänzungslieferung 2023, § 4 SGB 8, Rn. 17 m.w.N.
[8] Vgl. Luthe in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., § 4 SGB VIII (Stand: 30.08.2023), Rn. 45.
[9] Vgl. Punkt 4.3 der „Grundsätze der Beschlussfassung des Landesjugendhilfeausschusses gemäß § 3 Abs. 7 der Satzung des Landesjugendamtes des Landes Sachsen-Anhalt über die öffentliche Anerkennung von Trägern der freien Jugendhilfe nach § 75 SGB VIII i. V. mit § 14 Abs. 1 Nr. 2 KJHG auf Landesebene, Beschluss des Landesjugendhilfeausschusses vom 30.11.2020“, https://lvwa.sachsen-anhalt.de/fileadmin/Bibliothek/Politik_und_Verwaltung/LVWA/LVwA/Dokumente/5_famgesjugvers/501/anerkannte_Traeger/Grundsaetze_Beschlussfassung_LJHA_30_11_2020.pdf
[10] Vgl. ebenda 4.3.2
[11] Vgl. Niederschrift zur Sitzung des Landesjugendhilfeausschusses vom 30.11.2015, Seite 11, https://lvwa.sachsen-anhalt.de/fileadmin/Bibliothek/Politik_und_Verwaltung/LVWA/LVwA/Dokumente/5_famgesjugvers/501/LJHA/Niederschriften/Niederschrift_LJHA_30_11_2015.docx
[12] Leitlinien für den Jugendschutz im Land Sachsen-Anhalt, https://lvwa.sachsen-anhalt.de/fileadmin/Bibliothek/Politik_und_Verwaltung/LVWA/LVwA/Dokumente/5_famgesjugvers/501/LJHA/Beschluesse/Leitlinien_JS_LJHA_2015.pdf
[13] Vgl. Koalitionsvertrag 2021 – 2026, Seite 48, https://digital.bibliothek.uni-halle.de/pe/download/pdf/3170955
[14] Vgl. ebenda Seite 85
[15] Vgl. ebenda Seite 90
[16] Vgl. ebenda Seite 114
Stellungnahmen und Unterstützerschreiben
Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz
Stellungnahme des Paritätischen Sachsen-Anhalt
Beschluss des Kinder- und Jugendrings Sachsen-Anhalt
Stellungnahme_LAG_Fachberatungsstellen_für_Betroffene_sexualisierter_Gewalt
Stellungnahme der Landeshauptstadt Magdeburg
Stellungnahme der Stadt Dessau-Rosslau
Unterstützungsschreiben der Landessportjugend Sachsen-Anhalt
Beschluss des Landesjugendhilfeausschusses Sachsen-Anhalt
Stellungnahme Landesvereinigung kulturelle Jugendbildung Sachsen-Anhalt
Stellungnahme Professor Voss (Hochschule Merseburg)
Stellungnahme Sandra Commichau (Hochschule Merseburg)
Stellungnahme Professorin Brand und weiterer Lehrenden, Wisschenschaftler*innen und Studierendenvertreter*innen der Hochschule Magdeburg sowie der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg